Indisches Theater rockt den Reuschberg

Die Dreamcatcher aus Bodhgaya starten ihre Deutschlandtournee

Eine nicht enden wollende Standing Ovation krönte am Freitag, 30. April, die Premiere der 6köpfigen Theatergruppe Dreamcatcher. Jeder der Spieler*innen hat alles gegeben – sie haben förmlich um ihr Leben gespielt. Erleichtert und glücklich stehen sie da; das Ritual der wiederholten Verneigungen ist längst beendet. Doch das Publikum lässt sie einfach nicht gehen, sieht, wie sich ungläubiges Staunen in den Mienen der Akteure spiegelt, bis die ersten die Fassung fallen lassen und weinen vor Glück. »Da habe ich einfach mitgeweint«, gesteht eine Zuschauerin.

Die Show trägt den programmatischen Titel ›Mahsus‹ – Fühle! –, und durch ein Wechselbad an Gefühlen schicken die Dreamcatcher ihr Publikum am Theater Reuschberg von der ersten Sekunde an. Schon der Auftakt ist furios, wenn der Gefühlshändler (Prathmesh Kumar Bhatt) seine Ware verhökert. Nur die junge Frau (Anchal Kumari) widersteht der Versuchung, am Konsum gefälliger Gefühle teilzunehmen. Unmittelbar danach wird sie das Opfer einer traumatischen Situation. Damit nicht genug, wird Anchal von der Gesellschaft mit Verachtung und Vorwurf gestraft.

Der Zuschauer wird von Anchal Kumari mitgenommen auf den Weg der Verarbeitung und Heilung von den zugemuteten Erfahrungen. Die verzweifelte Suche nach Hilfe treibt die junge Frau dem nächstbesten Scharlatan – einem Schein-Heiligen, dargestellt von Prathnesh Kumar Bhatt – in die Fänge. Dieser nun hat es ausschließlich auf den goldenen Ring der Mutter abgesehen – das einzige, was Anchal besitzt. Als erbarme sich ihrer das Schicksal selbst, schickt es Anchal einen Polizisten von der Sorte, die ihr Vertrauen auf Gerechtigkeit noch nicht gegen Bakschisch verkauft hat. Der Polizist (Vinod Kumar) gibt ihr auch den Tip, zur alten weisen Maa (Saniya Khatum) zu gehen.

Damit beginnt eine Innenweltreise, in deren Verlauf Anchal den Dschungel ihrer eigenen Ängste zu überwinden und die Berge zu erklimmen hat. Die hilfreichen Figuren des Affen (Prathmesh) als Anspielung auf den Hindu-Gott Hanuman und des Adlers (Majid Alam) stehen für Seelenanteile, aus deren Kraft der jungen Frau ein neues, nie gekanntes Selbstbewusstsein erwächst. Am Ende zwingt Anchal die anonymisierte Gesellschaft, ihr ins Gesicht zu schauen und rettet damit nicht nur sich selbst vor dem sozialen Tod, sondern demaskiert die Gesellschaft mit dem gar nicht mal so unrealistischen Effekt, dass die einzelnen wieder zur Mitmenschlichkeit erwachen. So wird die Ausgestoßene zur Integrationsfigur. Am Ende des Bühnenspiels klingt die Frage noch im Raum nach: »Ja, ich bin ein Mädchen. Bin ich deshalb schwach?«

Die Dreamcatcher berühren damit ein hochbrisantes Thema im zeitgenössischen Indien. Dieser kritische Inhalt wird mit soviel Temperament und Lebensfreude umgesetzt, dass man innerlich die ganze Zeit mitjubelt. Allein die im Bollywood-Stil gehaltenen, thematisch eng mit der Storyline verbundenen Tanzchoreografien treiben mit atemberaubendem Tempo den Spielerinnen und Spielern den Schweiß aus den Poren und dem Publikum die Tränen in die Augen. Was der Theatersupervisor Christian Fried zur Eröffnung der Bühne versprochen hat, war nach 60 Minuten Spielzeit eingelöst: »Das ist das beste Stück, das die Dreamcatcher jemals gezeigt haben.« So kommentiert ein Zuschauer mit verwundertem Kopfschütteln nach der Show: »Die haben um ihr Leben gespielt.«

Mahsus‹ ist das Ergebnis einer 15jährigen Entwicklung, die auf dem Reuschberg seinen Anfang genommen hat. Hier nämlich hat Wolfgang Schramm, Gründer der Dreamcatcher, die Theatermethode ›act‹ bei Fried & Keller studiert und nach Indien mitgenommen. Längst hat er das Staffelholz der Leitung an Vinod Kumar und Abishek Kumar weitergereicht, die nun ihre Studenten als Anleiter zur Ausbildung neuer Spieler*innen in die Slums von Bhopal und unter den Unberührbaren Bodhgayas entsenden. Dreamcatcher und Choreograf Abishek Kumar konstatiert: »Wenn ich denke, dass ich vor den Meistern meines Meisters und den begnadeten Spielern von Irrwisch gespielt habe, zittere ich jetzt noch vor Lampenfieber.« Während ihrer Tournee halten die Dreamcatcher auch Workshops an deutschen Schulen.

Die Dreamcatcher haben tatsächlich einen ihrer Träume eingefangen und in die Realität gehoben. ›Mahsus‹ – mit ihren Gefühlen haben die Dreamcatcher mitten ins Herz getroffen. Wenn die Akteure ihre Zuschauer*innen lieben und diese Liebe erwidert wird, ist sie geschlossen: die mystische Hochzeit zwischen Spielern und Publikum.

In Aschaffenburg zu Brüderschaft der Völker auf dem Volksfestplatz spielen die Dreamcatcher als Derniere ihrer Tournee die Show ›Mahsus‹ am Samstag, 15. Juli um 15:30 Uhr.

Kontakte: CreActing.net oder CreActingIndia

Dreamcatcher auf dem Reuschberg in Bestform: (v.l.) Saniya Khatum, Majid Alam, Vinod Kumar, Rathmesh Kumar Bhatt, Abishek Kumar, Anchal Kumari.

Gegen alle Widerstände geht eine junge Frau geht ihren Weg: Anchal Kumari, hier mit Abishek Kumar.

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